Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen mit mehr als einer Sprache auf. Sie verfügen bereits im Vorschulalter über einen reichhaltigen Sprachschatz, der es ihnen erlaubt, mühelos in beiden Sprachen zu kommunizieren und somit sehr früh wichtige interkulturelle Erfahrungen zu machen.
Es gibt jedoch zum Thema "Frühkindliche Mehrsprachigkeit" von Seiten der Eltern, ErzieherInnen und LogopädInnen / SprachtherapeutInnen immer wieder Zweifel und Unsicherheiten. An dieser Stelle möchten wir kurz auf die häufigsten Fragen eingehen, die im Rahmen von Elternberatungen und Fortbildungen an uns herangetragen wurden.
Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder mit mehr als einer Sprache groß werden, sind sehr vielfältig es gibt somit sehr viele verschiedene Formen der Mehrsprachigkeit. Doch trotz der großen Vielzahl an unterschiedlichen mehrsprachigen Lebenssituationen kann man grob zwei große Gruppen von zweisprachigen Kindern voneinander unterscheiden, die sich in ihrer sprachlichen Entwicklung stark voneinander unterscheiden.
Als simultan bilingual bezeichnet man diejenigen Kinder, die sehr früh - während der ersten zwei bis drei Lebensjahre mit zwei Sprachen aufwachsen. Häufig geschieht dies dadurch, dass beide Eltern unterschiedliche Muttersprachen haben, die sie mit dem Kind sprechen. Dadurch wächst das Kind ganz selbstverständlich mit zwei Sprachen auf - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es jede Sprache sehr oft hört und nicht etwa nur eine Stunde pro Woche.
Sukzessiv zweisprachige Kinder lernen innerhalb der ersten drei Lebensjahre zunächst nur eine Sprache - ihre Muttersprache. Ab dem Alter von drei Jahren kommt dann eine weitere Sprache hinzu. Häufig ist dies der Fall, wenn muttersprachig nicht-deutsche Kinder ab drei Jahren eine deutschsprachige Kindertagesstätte besuchen.
Simultan bilinguale Kinder lernen die beiden Sprachen etwa genauso wie die Kinder, die nur eine der beiden Sprachen lernen, also einsprachig aufwachsen. Beide Gruppen von Kindern sprechen etwa um den ersten Geburtstag herum ihre ersten Wörter, bilden mit etwa 18 Monaten Zweiwortsätze und können mit drei Jahren schon richtig lange Sätze bilden, die sich oft sehr richtig anhören. Allerdings gibt es zwei wichtige Besonderheiten bei bilingualen Kindern, die völlig normal sind. Zum einen beeinflussen sich die Sprachen gegenseitig bei der Aussprache. So rollen zum Beispiel russisch-deutsch-sprachige Kinder (und auch Erwachsene) das R auch dann, wenn sie deutsch sprechen. Zum anderen treten sehr häufig Sprachmischungen auf. Das können einzelne Wörter ("Ich gehe zum playground.") aber auch grammatische Elemente sein ("I have my brother gesawt."). Während man früher glaubte, dass diese Sprachmischungen ein deutliches Zeichen dafür sind, dass Kinder mit zwei Sprachen überfordert sind und keine der beiden Sprachen richtig lernen (Stichwort Halbsprachigkeit), weiß man heutzutage, dass die Sprachmischungen eine sehr kreative Nutzung der gesamten sprachlichen Kompetenz ist. So haben die Kinder zum Beispiel die Möglichkeit, Wortschatzlücken in der einen Sprache mit Wörtern aus der anderen Sprache zu füllen und können somit die Kommunikation aufrecht erhalten - aber natürlich nur dann, wenn der Kommunikationspartner auch beide Sprachen versteht.
Die zweisprachige Kompetenz eines Kindes bleibt aber nur so lange erhalten, wie es beide Sprachen auch tatsächlich oft im Alltag benutzt. Sobald eine Sprache nicht mehr häufig mit dem Kind gesprochen wird, verlernt es diese wieder.
Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, also sukzessiv zweisprachig aufwachsen, haben bereits enorme Fähigkeiten in ihrer Muttersprache ausgebildet. Diese helfen ihnen, die ersten Wörter der zweiten Sprache sehr schnell zu lernen. Allerdings ist die Geschwindigkeit, mit der sukzessiv zweisprachige Kinder die zweite Sprache lernen, sehr unterschiedlich. Dabei gilt: Je früher ein Kind eine zweite Sprache lernt, je öfter es diese in einer guten Qualität (von muttersprachig deutschen Menschen) hört, je attraktiver die Sprache für das Kind gestaltet wird (Sprachlernmotivation) und je mehr die Zweisprachigkeit von den Bezugspersonen des Kindes (Familie und ErzieherInnen) geschätzt wird, desto besser lernt das Kind die Zweitsprache.
Oft lässt sich folgender Zweitspracherwerb beobachten: In den ersten Tagen und Wochen des Zweitsprachkontakts schweigen die Kinder und versuchen, sich über nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten (Blicke, Mimik, Gesten) mitzuteilen. Wenn sie sich in die Laute der neuen Sprache eingehört haben, versuchen sie zunächst häufige Sprachroutinen (Hallo, wie geht es dir?, Guten Morgen!, Ich habe Hunger.) zu benutzen. Nach und nach lernen sie einzelne Wörter, die sie dann ab einer Wortschatzgröße von 50 Wörtern in Zwei- und Mehrwortsätzen kombinieren. Bereits nach 10 Monaten Sprachkontakt können die meisten sukzessiv zweisprachigen Kinder sich gut mit anderen unterhalten und verstehen fast alles, wenn man das Gesagte mit Gesten oder Bildern unterstützt.
Um jedoch ohne Schwierigkeiten im Schulalltag mitzukommen, müssen die Kinder über diese basalen Sprachfähigkeiten hinaus die grammatischen Besonderheiten der deutschen Sprache lernen. Dies dauert oft mindestens drei Jahre. Und manche Fehler (falscher Artikel, falsche Mehrzahlform, falsche Zeitengebung) bleiben bis ins Jugend- und Erwachsenenalter bestehen.
Über die Muttersprache eines Kindes wird nicht nur sprachspezifisches Wissen vermittelt (Wortschatz, Grammatik, etc.), sondern über sie tauchen Kinder in die emotionale und kulturelle Welt ihrer Umwelt ein. Damit sich eine möglichst intuitive und echte Eltern-Kind-Beziehung entwickeln kann, die für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sehr wichtig ist, sollten Eltern immer darin unterstützt werden, ihre eigene Muttersprache (beziehungsweise diejenige Sprache, in der sie sich zu Hause fühlen) mit dem Kind zu sprechen. Natürlich ist es darüber hinaus wichtig, dass das Kind durch die Kommunikation mit anderen Menschen möglichst früh in die Sprache des Landes eintaucht, in dem es lebt. Denn: Je früher die Kinder die Umgebungssprache (Deutsch) lernen, desto weniger sind sie zu Schulbeginn (bildungs-)benachteiligt. Deshalb sollte der Förderschwerpunkt in Kindertageseinrichtungen auf der deutschen Sprache liegen.
Die meisten Ratgeber für bilinguale Familien sind sich darüber einig, dass Kinder am besten früh zwei Sprachen lernen, wenn jedes Elternteil konsequent die eigene Muttersprache mit dem Kind spricht und es eine gemeinsame Familiensprache gibt. Dieses Prinzip nennt man in der Fachwelt "one person - one language". Allerdings lässt sich der Alltag nicht immer so klar nach diesem Prinzip einteilen. So ist es auch sehr gut für die zweisprachige Entwicklung des Kindes, wenn es eine Familien- und eine Umweltsprache gibt oder aber zwei Sprachen in verschiedenen Situationen eingesetzt werden ("Beim Kuscheln reden wir Türkisch und beim Einkaufen Deutsch."). Egal in welcher Konstellation die verschiedenen Sprachen im Alltag des Kindes auftauchen, wichtig ist immer: Es sollte eine klare Struktur geben, damit das Kind die beiden Sprachen deutlich voneinander unterscheiden kann. Dazu gehört es auch, in den ersten Jahren starke Sprachmischungen zu vermeiden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass ein Kind beide Sprachen sehr oft hört (nicht nur einmal pro Woche).
Es gibt seit einigen Jahren sehr viele Sprachförderprogramme für Kindertageseinrichtungen, die mit dem Ziel eingesetzt werden, Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache beim Zweitspracherwerb zu unterstützen. Dies ist sinnvoll - vor allem bei denjenigen Kindern, die erst kurz vor der Einschulung systematisch mit der deutschen Sprache in Berührung kommen. Aber: Es sollte nicht dabei bleiben, einzelne Kinder für maximal 30 Minuten pro Tag aus der Gruppe herauszunehmen, um ihnen bestimmte Sprachstrukturen nahe zu bringen. Vielmehr sollte der Schwerpunkt auf der sprachförderlichen Gestaltung des indergartenalltags liegen. Dabei wird das Sprachlernen nicht in einen "Sprachunterricht" verpackt, sondern die Kinder lernen im natürlichen und alltäglichen Miteinander. Dabei ist es vor allem wichtig, dass die ErzieherInnen bemüht sind, so viele Alltagshandlungen wie möglich sprachlich zu begleiten, viele Wiederholungen verwenden und den Spaß an der Sprache wecken. Bei den Kindern, die gerade am Anfang des deutschen Spracherwerbs stehen, sollten sie nonverbale Kommunikation (Gestik und Mimik) einsetzen, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden.
Bei LogopädInnen werden in der Regel Kinder vorgestellt, die Schwierigkeiten in ihrer sprachlichen Entwicklung zeigen. Bei mehrsprachigen Kindern stellt sich dabei die Frage: Hat das jeweilige Kind eine Sprachentwicklungsstörung oder kann es die Zweitsprache Deutsch noch nicht so gut, weil es bisher zu wenig Erfahrungen mit dieser Sprache gesammelt hat?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen die Fachfrauen und -männer optimalerweise die Fähigkeiten in beiden Sprachen des Kindes untersuchen. Dies stellt aus hauptsächlich zwei Gründen jedoch eine große Schwierigkeit dar: die meisten LogopädInnen sind einsprachig deutsch aufgewachsen und es gibt kaum adäquate Testverfahren zur Erfassung der nicht-deutschen Muttersprache. Um der diagnostischen Aufgabe dennoch möglichst gut gerecht zu werden, müssen LogopädInnen einen möglichst detaillierten Eindruck der zweisprachigen Entwicklung des Kindes gewinnen - sei es über die ausführliche Befragung der Eltern oder den Einsatz von diagnostischen Hilfsmitteln, die zur Erfassung der nicht-deutschen Muttersprache zur Verfügung stehen. Auf jeden Fall müssen sich die ExpertInnen gut mit der Theorie der frühkindlichen Zweisprachigkeit auskennen; denn nur so können sie entscheiden, ob die sprachliche Kompetenz des Kindes im zu erwartenden Bereich liegt oder aber eine Sprachtherapie notwendig ist.
Es wird sehr oft empfohlen, dass mehrsprachige Kinder mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (also Kinder, die keine geistige Behinderung oder tiefgreifende Entwicklungsstörung haben) nur eine Sprache lernen sollten, da sie mit zwei Sprachen überfordert seien. Diese Annahme hat sich in wissenschaftlichen Studien nicht bestätigt. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass mehrsprachige Kinder mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung die gleichen (und nicht etwa mehr) Auffälligkeiten zeigen wie einsprachige Kinder mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Auch konnten mehrsprachige Kinder ihre Schwierigkeiten nicht dadurch verbessern, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch mit einer Sprache aufgewachsen sind. Verbesserungen konnten ausschließlich durch eine Sprachtherapie in beiden Sprachen erzielt werden. Somit können Kinder mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung sehr wohl zweisprachig aufwachsen, ohne dass sich dadurch automatisch ihre sprachlichen Schwierigkeiten vergrößern.
Autorin: Dr. Doreen Asbrock
Jahr: 2006
In H. Grimm (Hrsg.)
Enzyklopädie der Psychologie Band 3: Sprachentwicklung
(S. 495-535)
Göttingen: Hogrefe
Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen gut verständlichen Grundlagentext zur simultan bilingualen Entwicklung.
Tübingen: Francke Verlag
Mit diesem Buch gibt die Linguistin Rosemarie Tracy einen verständlichen Einblick in die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur frühkindlichen Mehrsprachigkeit. Darüber hinaus werden wertvolle Hinweise für die sprachliche Förderung von Kindern aufgezeigt, die Deutsch als Zweitsprache lernen
Baltimore: Brookes
Dieses verständlich geschriebene Buch gibt einen aktuellen Überblick über die Forschung zu frühkindlicher Mehrsprachigkeit
Journal of Speech, Language and Hearing Research
46(2), 113-127
In dieser wissenschaftlichen Studie wird deutlich gezeigt, dass simultan bilinguale Kinder ihre beiden Sprachen ähnlich wie einsprachige Kinder erwerben
In R. Bahr & C. Iven (Hrsg.)
Sprache - Emotion - Bewusstheit
(S. 154-162)
Idstein: Schulz-Kirchner
Monika Rothweiler erforscht die sprachliche Entwicklung von muttersprachig türkischen Kindern mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung und gibt in diesem Tagungsbeitrag einen aktuellen und sehr interessanten Überblick über ihre Ergebnisse
Band 1
New Jersey: Erlbaum
In diesem Buch werden die Sprachentwicklungsverläufe von mehreren Muttersprachen (z.B. Türkisch & Polnisch) dargestellt
In J. Siegmüller & H. Bartels (Hrsg.)
Leitfaden Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucke
(S. 44-49)
München: Urban & Fischer
Dieser Lexikonbeitrag gibt eine kurze und präzise Zusammenfassung des aktuellen Wissensstandes
In C. Danzer, M. Kranzl-Greinecker & R. Krenn
Sprechen lernen, Sprache finden
(S.97-103)
Linz: Unsere Kinder
Münster: Ökotopia
In diesen Veröffentlichungen werden konkrete Tipps für den Beziehungsaufbau und die Zusammenarbeit mit Eltern aus verschiedenen Kulturen vorgestellt
In B. A. Goldstein (Hrsg.)
Bilingual language development and disorders in Spanish-English speakers
(S. 311-338)
Maryland: Brookes
Language, speech, and hearing services in schools
36, 251-263
Karin Kohnert ist eine erfahrene Sprachtherapeutin, die in ihren Veröffentlichungen wichtige Vorgehensweisen für die Sprachtherapie / Logopädie bei mehrsprachigen Kindern vorstellt