Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung, Diagnostik und Intervention e. V.

Standardisierte Sprachtests: (Wie) können sie bei Kindern mit geistiger Behinderung sinnvoll eingesetzt werden?

Die Herausforderung:

Die sechsjährige Melissa versteckt sich ein wenig hinter ihrer Mutter, dann lugt sie hervor und grinst mich herausfordernd an. Melissa hat das Down-Syndrom. Heute soll ihr Sprachentwicklungsstand festgestellt werden, um die Förderung bestmöglich auf sie zuschneiden zu können. Ich stelle den „Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder“ (SETK-2) und den entsprechenden Test für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5) neben den Tisch und packe aus. Melissas Mutter ist skeptisch und warnt mich vor, dass ihr Kind bei so einem „richtigen Sprachtest“ vermutlich nicht mitmachen werde. Sie spräche doch erst wenige Wörter. Außerdem könne sie sich nie lange konzentrieren.

Manche Eltern und Therapeuten sind Sprachtests gegenüber skeptisch und das ist in gewisser Weise auch verständlich. Oft erscheinen gewählte Testaufgaben zu schwierig und manchmal berücksichtigt der Testanwender die individuellen Bedürfnisse des Kindes auch nicht angemessen.

Die Auffassung, dass es trotzdem möglich – und sinnvoll – ist, bei Kindern mit geistiger Behinderung standardisierte Tests einzusetzen, stützt sich auf eine Studie, die mit 28 Kindern mit Down-Syndrom (im Alter von 4-6 Jahren) durchgeführt wurde (Aktas, 2004). Bei diesen Kindern wurden die beiden genannten Sprachtests eingesetzt und es wurde analysiert, welche Informationen man mit den Tests über die kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten der Kinder gewinnen kann.

Was messen die Tests?

Im SETK-2 wird zunächst mit Bildkarten überprüft, wie gut Zweijährige einzelne Wörter bzw. bestimmte Satzformen und Präpositionen bereits verstehen. Anhand eines Wortschatztests und einer Bildbeschreibungsaufgabe wird dann betrachtet, wie gut sich das Kind sprachlich äußern kann. Im SETK 3-5 werden schwierigere Verstehens- und Produktionsaufgaben eingesetzt, da dieser die Sprachfähigkeiten bis zum Alter von 5 Jahren und 11 Monaten Jahren abbildet. Außerdem wird das Gedächtnis der Kinder für Sprache überprüft.

Welche Vorteile bieten standardisierte Tests?

Erstens können die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes vergleichsweise objektiv, d.h. weitgehend unabhängig von der Person des Untersuchers, eingeschätzt werden, weil die Durchführung und Auswertung der Testaufgaben genau festgelegt sind. Zweitens ermöglicht ein normierter Test, die sprachlichen Stärken und Schwächen eines Kindes im Vergleich zum typischen Entwicklungsverlauf zu sehen. Anhand von Testergebnissen und darauf basierenden Angaben zum sprachlichen Entwicklungsalter lassen sich nicht nur unterschiedliche Kinder miteinander vergleichen, sondern auch individuelle Fortschritte gut feststellen.

Standardisierte Tests bei Kindern mit geistiger Behinderung

Dennoch bleibt die Frage, welchen Erkenntnisgewinn solche Tests bei Kindern mit geistiger Behinderung bieten. Dass Melissa weit unterdurchschnittliche sprachliche Fähigkeiten im Vergleich zu typisch entwickelten Sechsjährigen zeigt, wusste man auch vorher. Dazu wäre kein Test nötig gewesen.

Die erwähnte Studie mit Kindern mit Down-Syndrom erbrachte folgendes Ergebnis: Standardisierte Tests wie die SETKs spielen ihren Trumpf bei Kindern mit geistiger Behinderung dann aus, wenn man die Tests in zweifacher Hinsicht auswertet: erstens so, wie es üblicherweise bei allen Kindern geschieht, nämlich an Altersnormen orientiert (d.h. im Vergleich zu anderen Kindern), und zweitens inhaltlich-qualitativ. Mit der normorientierten Auswertung kann ein ungefähres Entwicklungsalter bestimmt werden, aber erst die qualitativ-theoriegeleitete Auswertung liefert mir ein individuelles Entwicklungsprofil eines Kindes. Dies lässt sich gut an der Aufgabe „Wortproduktion“ aus dem SETK-2 verdeutlichen:

Melissa soll darin 6 Objekte (z.B. Puppe, Ball) und 24 Bilder von Gegenständen, die auf Bildkarten abgedruckt sind (z.B. Baum, Kamm), benennen. Die Aufgabe wird standardisiert durchgeführt, indem Melissa jeweils gefragt wird: „Was ist das?“. Ihre Antworten und Reaktionen werden genau analysiert: Zwei Objekte kann sie mit einem Wort bezeichnen („Ball“, „Tuhl“ für Stuhl), bei fünf Objekten versucht sie, die Geräusche nachzuahmen (z.B. beim Schwein und beim Wecker) und dreimal verwendet sie eine Geste, z.B. fährt sie sich beim Bild des Kamms mit den Fingern durch das Haar. Anhand einer Videoaufzeichnung können außerdem weitere Kommunikationsmittel (Blickrichtung, Gesten, Kopfbewegungen, Mimik) analysiert werden.

Welche Aussagen erlauben diese Analysen?

Die normorientierte Auswertung ergibt erwartungsgemäß, dass Melissa weniger Wörter spricht als typisch entwickelte Zweijährige. Interessanter sind jedoch die Informationen, die die qualitative Auswertung der Aufgaben bietet. Bei Melissa kann man aus dem Wortschatztest ableiten, dass sie bereits gut kommunizieren kann: Sie hält Blickkontakt, reagiert angemessen auf Aufforderungen und versteht, was sie tun soll. Sie „beantwortet“ die Fragen so gut sie kann: mit Lautmalereien, mit symbolischen, darstellenden Gesten und auch schon mit ersten Wörtern. Damit zeigt sie, dass sie zwar noch überwiegend nonverbal kommuniziert, aber schon sicher mit Symbolen umgeht und damit einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Sprache erreicht hat.

Ein paar Monate später werden die Aufgaben mit Melissa erneut durchgeführt. Dadurch, dass bei einem Test exakt dasselbe Vorgehen eingehalten wird, lassen sich die Veränderungen in Melissas Fähigkeiten nun besonders gut erkennen. Im Testergebnis hat sich zunächst scheinbar nichts verändert: Melissa spricht weiterhin nur die beiden Wörter „Ball“ und „Tuhl“, inzwischen hat sie aber – mithilfe eines Trainings lautsprachbegleitender Gebärden – einen breiten Gestenwortschatz aufgebaut: 21 der 30 Wörter kann sie nun mühelos gebärden. Auch in den weiteren Untertests der Sprachtests lassen sich auf diese Weise Fortschritte aufdecken.

Fazit:

Diese und weitere Beispiele zeigen, dass standardisierte Tests wie der SETK-2 und der SETK 3-5 bei richtiger Anwendung einen wichtigen Beitrag zur Sprachdiagnostik bei Kindern mit geistiger Behinderung leisten können. Ergänzt man die Testaufgaben noch um standardisierte Elternfragebögen (z.B. die Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern, ELFRA, Grimm & Doil, 2006), verfügt der Sprachtherapeut / die Sprachtherapeutin über ein Diagnostikum, mit dem von den ersten Lauten und Reaktionen auf Ansprache bis zur Produktion grammatisch komplexer Sätze die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern eingeschätzt werden können. Für die praktische Anwendung der Verfahren bei Kindern mit geistiger Behinderung sind inzwischen ein Leitfaden und eine Reihe weiterer Materialien entwickelt worden (Aktas, 2012).

Literatur:

Aktas, M. (2004)

Sprachentwicklungsdiagnostik bei Kindern mit Down-Syndrom.

Entwicklung eines diagnostischen Leitfadens zum theoriegeleiteten Einsatz standardisierter Verfahren.

Universität Bielefeld: Dissertation im Fachbereich Psychologie (http://pub.uni-bielefeld.de/publication/2302157).

Aktas, M. (2012)(Hrsg.)

Entwicklungsorientierte Sprachdiagnostik und -förderung bei Kindern mit geistiger Behinderung: Theorie und Praxis.

München: Elsevier.

Grimm, H. & Doil, H. (2006)

Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA-1, ELFRA-2).

Zweite und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe.

Grimm, H. (unter Mitarbeit von M. Aktas & S. Frevert). (2000)

SETK-2.

Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder. Diagnose rezeptiver und produktiver Sprachverarbeitungsfähigkeiten.

Göttingen: Hogrefe.

Grimm, H. (unter Mitarbeit von M. Aktas & S. Frevert). (2001)

SETK 3-5.

Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder. Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen.

Göttingen: Hogrefe.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in:

Aktas, M. (2013)

Deutsche Behinderten-Zeitschrift, 5, 10-11.

Mit freundlicher Genehmigung von Deutsche Behinderten-Zeitschrift.

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