Entwicklungsstörungen werden bei vielen Kindern deutlich zu spät erkannt und häufig erst Jahre nach dem Auftreten der ersten Auffälligkeiten behandelt. In unserem Gesundheits- und Bildungssystem besteht damit eine erhebliche Versorgungslücke, was das frühe Erkennen, die Prävention (also Vorbeugung) und die Behandlung von Entwicklungsstörungen anbelangt. Hier möchte das Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung e.V. zu einer Verbesserung der Versorgung von jungen Kindern mit Entwicklungsproblemen beitragen.
Es ist eine weit verbreitete Auffassung, dass sich Entwicklungsverzögerungen bei jungen Kindern schon "auswachsen" werden. Tatsächlich sind Entwicklungsprobleme jedoch in vielen Fällen recht hartnäckig, dehnen sich im Verlauf der Entwicklung aus und verstärken sich gegenseitig. Aus einer anfänglichen Verzögerung in einem Entwicklungsbereich kann leicht eine breite Entwicklungsstörung werden. So ist beispielsweise erwiesen, dass Kinder, die mit 24 Monaten einen deutlichen Sprachrückstand aufweisen, ein erhöhtes Risiko tragen, eine dauerhafte Sprachentwicklungsstörung auszubilden. Diese zieht nicht selten Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und andere Lernprobleme sowie emotionale und soziale Probleme nach sich.
Gelingt es jedoch, Risikokinder für eine Entwicklungsstörung zu erkennen und zu behandeln, bevor die Probleme eine gravierendes Ausmaß erreicht haben, bestehen größere Chancen für das Kind, seinen Entwicklungsrückstand so weit wie möglich aufzuholen. Je früher ein Risikokind erkannt wird, umso eher kann weitreichenderen negativen Folgen vorgebeugt werden.
Die meisten Entwicklungsstörungen - wie z.B. Allgemeine Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen, Geistige Behinderungen, Sprachentwicklungsstörungen, Autismus - lassen sich an einer verzögerten Sprachentwicklung erkennen. Dies hängt damit zusammen, dass ein Kind erst bestimmte Wahrnehmungsfähigkeiten, Denk- und Merkfähigkeiten und soziale Fähigkeiten erworben haben muss (sogenannte Vorausläuferfähigkeiten), bevor es in der Lage ist, sprechen zu lernen. Wenn in der Entwicklung des Denkens, der Entwicklung bestimmter Wahrnehmungsfähigkeiten oder im sozialen Bereich gravierende Probleme auftreten, wirkt sich dies notwendigerweise auf den frühen Spracherwerb aus. Die frühe Sprachentwicklung stellt damit eine Art Alarmsystem für den Gesamtentwicklungsstand eines Kindes dar. Um Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Art frühzeitig erkennen zu können, ist es daher erforderlich, die frühe Sprachentwicklung insbesondere im Alter von 1 bis 3 Jahren besonders sorgfältig zu beobachten und Sprachverzögerungen bereits in diesem Alter ernst zu nehmen.
Manche Kinder beginnen sehr früh zu sprechen, während andere sich damit deutlich mehr Zeit lassen. Da diese enormen Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit bis zu einem gewissen Grad völlig normal sind, galt es lange Zeit als schwierig zu beurteilen, ob ein Kind sich sprachlich nur etwas langsamer entwickelt oder ob eine Sprachentwicklungsverzögerung vorliegt.
Inzwischen weiß man aber - dank umfangreicher amerikanischer und deutscher Forschungsarbeiten -, dass es einen Zeitpunkt gibt, der für die weitere Entwicklung besonders aussagekräftig ist: Dieser Zeitpunkt liegt um den 2. Geburtstag herum. In diesem Alter haben Kinder in der Regel einen Wortschatz von weit über hundert Wörtern und bilden die ersten Zwei- und Mehrwortsätze. Aber etwa 14 bis 20% der 24 Monate alten Kinder entwickeln sich in sprachlicher Hinsicht sehr langsam. Kinder, die zu diesem Zeitpunkt weniger als 50 Wörter sprechen, werden in der Fachliteratur Späte Sprecher genannt.
In vielen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Hälfte der Späten Sprecher ihre Verzögerung bis zum 3. Geburtstag aufholen kann. Die andere Hälfte aber, also immerhin 7 bis 10% aller dreijährigen Kinder, holt nicht auf. Diese Kinder bilden unterschiedliche Formen von Entwicklungsstörungen aus.
Zusammengefasst: Kinder, die mit 24 Monaten zu den Späten Sprechern gehören, also weniger als 50 Wörter sprechen können, tragen ein etwa 50%iges Risiko, eine dauerhafte Entwicklungsstörung auszubilden.
Die frühe Sprachentwicklung stellt ein Alarmsystem für den Gesamtentwicklungsstand eines Kindes dar. Wenn ein Kind mit 24 Monaten zu den Späten Sprechern gehörte und diesen Entwicklungsrückstand bis zum 3. Geburtstag nicht aufgeholt hat, so kann dies ganz unterschiedliche Hintergründe und Ursachen haben:
Welcher dieser Faktoren bei einem Kind die Ursache der Sprachentwicklungsverzögerung ist, lässt sich nur im Rahmen einer gründlichen Abklärung durch entsprechend geschulte Fachleute klären.
Wenn Sie als Eltern den Verdacht haben, dass sich Ihr Kind in sprachlicher Hinsicht langsamer entwickelt als die meisten gleichaltrigen Kinder, ist es wichtig, sich nicht vertrösten zu lassen, sondern sich dafür einzusetzen, dass spätestens mit 3 Jahren eine gründliche Abklärung der Problematik erfolgt und geeignete Fördermaßnahmen eingeleitet werden. Denn: Früh einsetzende Therapien sind wirksamer als späte, und oft auch weniger langwierig.
Eine gründliche Abklärung des Verdachtes sollte grundsätzlich drei Bereiche umfassen:
Entwicklungspsychologische Untersuchungen des sprachlichen und kognitiven Entwicklungsstandes eines Kindes werden auch im Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung e.V. angeboten. Auf der Grundlage einer fundierten diagnostischen Abklärung können dann geeignete Fördermaßnahmen, z.B. in Form von Sprachtherapie oder Frühförderung eingeleitet werden.
Drei Personengruppen sind maßgeblich an der Früherkennung von Entwicklungsproblemen beteiligt: die Eltern, Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie die Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten. Eine bessere Früherkennung von Risikokindern erfordert eine enge Kooperation der drei genannten Gruppen.
Eltern äußern häufig früh den Verdacht, dass ihr Kind möglicherweise nicht altersgemäß entwickelt sei. Nicht selten werden sie jedoch zunächst lange vertröstet und Fördermaßnahmen erst eingeleitet, wenn die Schwierigkeiten bereits ein gravierendes Ausmaß erreicht haben.
Eine Schlüsselrolle bei der Früherkennung kommt den praktisch tätigen Kinderärztinnen und Kinderärzten zu. Denn mit den mit den regelmäßigen kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen existiert prinzipiell ein geeigneter Rahmen für die Identifikation von Entwicklungsproblemen. Problematisch ist jedoch, dass Kinder mit Entwicklungsstörungen im Rahmen der U-Untersuchungen in der Regel erst sehr spät auffallen. Ursache dafür ist, dass die entwicklungspsychologischen Inhalte, die in den gelben Untersuchungsheften enthalten sind, dringend reformbedürftig sind - eine Einschätzung, die auch von vielen Kinderärztinnen und Kinderärzten geteilt wird. Es ist also notwendig, auf der Grundlage des aktuellen entwicklungspsychologischen Forschungsstandes neue Verfahren zur Früherkennung zu erproben und in Kooperation mit Kinderärztinnen und Kinderärzten in die U-Untersuchungen zu integrieren. (Ein längsschnittlich angelegtes Modellprojekt zur "Früherkennung von Kindern mit Entwicklungsrisiken durch Optimierung der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen" wurde 2004 gestartet. Die Ergebnisse werden ca. Anfang 2010 vorliegen.)
Schließlich spielen Erzieherinnen und Erzieher in Tageseinrichtungen für Klein-und Vorschulkinder eine wichtige Rolle bei der Früherkennung von Entwicklungsproblemen, da der Kindergartenalltag gute Möglichkeiten bietet, Kinder im Vergleich mit Gleichaltrigen zu beobachten. Wichtig ist es, die Erzieherinnen und Erzieher darin zu schulen, relevante Hinweise auf eine mögliche Entwicklungsproblematik zu erkennen und Eltern im Umgang mit einem entsprechenden Verdacht angemessen zu begleiten und zu beraten.
Piper-Verlag
Universität Bielefeld: Dissertation Im Fachbereich Psychologie
Göttingen: Hogrefe
Belmont: Wadsworth/Thomson Learning
[Ein umfangreiches Lehrbuch zur Sprachentwicklung]
Cambridge: Harvard University Press
[In verständlicher Sprache wird ein aktueller Überblick über Theorien und empirische Befunde zur Sprachentwicklung gegeben.]
In H. Grimm (Hrsg.)
Enzyklopädie der Psychologie
C III, Band 3: Sprachentwicklung (S. 403-432)
Göttingen: Hogrefe.
In P.F. Schlottke, R.K. Silbereisen, S. Schneider & G.W. Lauth (Hrsg.)
Störungen im Kindes- und Jugendalter
(Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 5)
Göttingen: Hogrefe
In H. Grimm & H. Skowronek (Hrsg.), Language acquisition problems and reading disorders:
Aspects of diagnosis and intervention
(S. 112-128)
Berlin: de Gruyter
Frühförderung Interdisziplinär, 25(2)
79-92
Universität Bielefeld: Dissertation im Fachbereich Psychologie
Diagnose rezeptiver und produktiver Sprachverarbeitungsfähigkeiten
Göttingen: Hogrefe
Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen
Göttingen: Hogrefe
Göttingen: Hogrefe
Göttingen: Hogrefe
Frühförderung Interdisziplinär
4, 163-177
Kinder- und Jugendarzt
33, 321-329